Ausstellungen

 

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste,

herzlich willkommen zur Ausstellung der Gruppe Carpe Manem! Wir wünschen Ihnen eine schöne Zeit mit vielen ästhetischen Anregungen und Denkanstößen.

Der Begriff Carpe Manem stammt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt: Hüte den Morgen. Die Gruppe Carpe Manem trifft sich jeden Montagmorgen zu künstlerischen Experimenten und geistigem Austausch. Jeder ist herzlich eingeladen einzusteigen und mitzumachen. Kernunterricht gibt es in Komposition, Farbe und Technik, sie sind die ständigen Begleiter in der experimentellen Auseinandersetzung.

Die Gruppe ist mit der Zeit sehr zusammengewachsen, man kennt und unterstützt sich, es ist eine gastliche, solidarische und kreative Atmosphäre.

Carpe Manem wird von Mechthild Woestmann und Brigitte Sterz geleitet. Beide haben zudem federführend diese Ausstellung organisiert und arrangiert.

Sie sehen hier Arbeiten von Petra Haas, Hans Martin Heinemeyer, Christine McKenna, Petra Middelmann, Gabi Niederländer, Ragnhild Paul, Michaela Proske, Grete Spaeck.

Es handelt sich allesamt um Arbeiten, die im Rahmen der staatlichen Maßnahmen während der ausgerufenen Pandemie entstanden sind. Der abrupte Verlust des sozialen Gefüges, die Isolierung der Menschen voneinander, die Anonymisierung des Antlitzes durch das Tragen des Gesslerhutes, die Bestrafung und Ächtung von Kritikern, die damit verbundene Angst vor Repressionen, und letztlich die angsteinflößende Panikmache zwangen auch die Gruppe Carpe Manem zum Fernunterricht.

Hier entstand nunmehr die ermutigende Idee, sich über das Genre des Portraits und Selbstporträts mit sich selbst und seinem realen oder fiktiven Gegenüber auseinanderzusetzen. Dass überhaupt eine Auseinandersetzung stattfand, und nicht einfach nur resigniertes Nichtstun, steht dem unsäglichen medialen Propagandamonster entgegen, derjenige sei ein Held der Nation, der sich zu Hause mit einer Tüte Chips vor die Glotze knallt. Das kam der Gruppe Carpe Manem offensichtlich nicht in die Tüte. Eine staatliche Anordnung zum Nichtstun wurde nicht akzeptiert.

Das Portrait bzw. Selbstportrait ist in der Kunst das privilegierte Genre der radikalen Auseinandersetzung mit seinem Gegenüber bzw. mit sich selbst als Gegenüber. Auseinandersetzung birgt immer die Gefahr von Erkenntnis, und Erkenntnis ist das Ferment von Veränderung, von alternativen Sichtweisen, von kritischem Denken und Handeln. Genau das also, was ein modernder Staat nicht gebrauchen kann.

Diese Radikalität im Kontext der aktuell grassierenden Weltenkrise zur Anwendung zu bringen, ist eine künstlerische Methode, den Schrecken der Krise als Chance der Neuerfindung und Stabilisierung seiner selbst zu nutzen. In der Krise eine Chance zu sehen, zieht den Menschen aus Anomie und Lethargie. Gleichzeitig ist das erbarmungslose Zurückgeworfensein auf sich selbst eine große Bürde, deren Bewältigung viel Kraft und Kreativität erfordert.

Albert Camus sagte einst: “Von einem bestimmten Alter an ist jeder Mensch für sein Gesicht selbst verantwortlich.” Das Portrait ist daher ein künstlerischer Indikator für den Zustand, aber auch für die Möglichkeiten einer Gesellschaft insgesamt.

Was sich beim selbstreflektierten Tiefenschürfen alles entdecken lässt! Fragen tauchen auf wie: Bin ich bereit für eine erbarmungslose Selbstkritik? Oder belasse ich es beim schönen Schein? Wie bin ich, wie ist eine ganze Gesellschaft in diese Situation geraten? Geht alles mit rechten Dingen zu? Bin ich aufrichtig zu mir selbst, oder lüge ich mir was in die Tasche? Kann ich noch in den Spiegel schauen? Wann kann man sich in den Spiegel schauen? Warum habe ich Angst, warum mache ich mit, will ich, muss ich mitmachen? Was ist menschlich? Was wäre menschlich? Was wäre natürlich? Und was wäre vernünftig? Was sind die Folgen meiner Einstellung, meines Handelns? Wer bin ich überhaupt? Welcher Geist regiert meinen Körper? Wer oder was regiert meinen Geist? Bin ich Herr oder Frau oder Es meiner Sinne? Bin ich ein Nutzmensch, oder bin ich autonom? Was drückt die Komposition auf der Oberfläche meines Antlitzes aus? Ist das Sein nur Schein? Mit welchen Selbstlügen rette ich mich durch den Tag? Bin ich überhaupt in der Lage, das Gewünschte zu Papier zu bringen? Oder arbeite ich spontan und lasse mich überraschen? Wie also kann ich mit mir experimentell umgehen? Darf man mit mir und meiner Gesundheit experimentieren?

Sie sehen in unserer Ausstellung eine Vielfalt an Experimenten in biografischer, intellektueller, emotionaler und nicht zuletzt kompositorischer und technischer Hinsicht. Vielfalt ist gerade angesichts der immer zunehmenden Standardisierungen sowie der faktenbereinigten, moralisch überhöhten Gesinnungsideologien mit einhergehenden pauschalen Schwarz-Weiß-Einteilungen in Gut und Böse der Ausdruck für einen erholsamen Reichtum an Möglichkeiten und Individualität. Die Wertschätzung jedes einzelnen Menschen als einzigartig, als auf seine Weise hochbegabt, kreativ, empathisch, innovativ, außergewöhnlich müsste gesellschaftlich nicht nur gefördert, sondern als Grundlage für eine menschlichere Gesellschaftsordnung verstanden werden. Dafür steht die Kunst ein, und sie wird nicht müde, dafür einzustehen. Allerdings kann diese Wandlung nicht von oben verordnet werden. Sie kann immer nur vom Einzelnen ausgehen, von unten, von der Basis der Menschen und der Menschlichkeit. Der Einzelne “kann alternativ”, er ist das schlagende Argument gegen die Alternativlosigkeit, die uns von oben verkauft wird. Wenn Kunst und Wissenschaft Alternativlosigkeit als Dogma und Glaubenssatz etablieren wollen, dann sind sie auf dem besten Wege, sich selbst abzuschaffen, dann werden sie zu einem modernen Mythos, der Denken durch Glauben, durch Hinnehmen, durch bloßes Empfangen und Befolgen von Anleitungen, letztlich durch Religion ersetzt.

Vielen Dank an alle Künstler und Künstlerinnen der Gruppe Carpe Manem für Ihre enorme Freude an der Kunst und der geistigen Auseinandersetzung! Vielen Dank dafür, dass Sie sich nicht haben unterkriegen lassen! Vielen Dank an unsere beiden Dozentinnen Mechthild Woestmann und Brigitte Sterz, die mit nicht minderem Engagement eine fachkundige individuelle künstlerische Betreuung geleistet haben.

Ich darf noch auf die kostenfreien Workshops während der Ausstellungszeit hinweisen. So bietet die Gruppe Carpe Manem ab diesem Montag 3 Kurse an, und zwar morgen zwischen 10 und 13 Uhr Alla-prima-Malerei, am kommenden Montag Monotypie und am darauffolgenden Montag “Bildfindung leicht gemacht”. Des Weiteren besuchen Sie gerne kostenfrei unser Aktzeichnen am Di, 22.11.2022 zwischen 19 und 20.30 Uhr. Heute biete ich ab 14 Uhr eine objektive Werkanalyse an, in der gerne Arbeiten der aktuellen Ausstellung als auch mitgebrachte Werke fachkundig unter die Lupe genommen werden.

Zum Abschluss bitte ich die beiden Dozentinnen Mechthild Woestmann und Brigitte Sterz nach vorne sowie alle anderen Aussteller ebenfalls, damit wir Sie gebührend beklatschen können.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche noch viel Spaß mit der Ausstellung!

Dr. Michael Becker / Schulleitung wfk


 

 

 

 

Wolfgang Becker